Der Horizon Report 2022 liegt seit Mitte April vor – die dritte Ausgabe unter der Ägide von EDUCAUSE. Im Mittelpunkt stehen die folgenden Technologien und Praktiken: KI für Learning Analytics, KI für Lernanwendungen, hybride Lernräume, hybride Lernarrangements, Kompetenzentwicklung für hybride Lernarrangements und Microcredentials. Der Fokus liegt, wie immer, auf Lehren und Lernen auf Stufe Hochschulen. Die behandelten Trends und Technologien sind früher oder später allerdings auch für andere Bildungskontexte (Berufsbildung, Schulen, betriebliche Weiterbildung) relevant.
Der EDUCAUSE Horizon Report – Teaching and Learning Edition analysiert Trends und aktuelle Entwicklungen im Bereich der Technologien, die die Zukunft des Lehrens und Lernens prägen werden (insbesondere auf der Tertiärstufe / der Ebene der Hochschulen). Der Bericht basiert auf den Einschätzungen eines globalen Panels von leitenden Bildungsverantwortlichen (ca. 60 Personen) aus verschiedenen Bildungsinstitutionen. Die Erhebungsmethodik (Delphi-Studie) und die Struktur des Berichts sind gleich geblieben wie bei den Berichten aus den Vorjahren 2021 und 2020.
Rahmenbedingungen und Trends
Die wichtigsten übergreifenden Trends bezüglich Lehren und Lernen auf der Tertiärstufe sind aus Sicht der Expert:innen die folgenden:
- Soziale Trends
Verbreitung von Telearbeit, von Online-Lernen und hybriden Lernformaten sowie auch eine zunhemende Bedeutung von stärker personalisierten, auf spezifische Skills ausgerichteten Bildungsangeboten. - Technologische Trends
Verbreitetung von Big Data und Learning Analytics, Erweiterung des Repertoires an Bildungsformate (hybride Formate) sowie eine zunehmende Bedeutung von Cybersecurity auch an Hochschulen. - Ökonomische Trends
Zunehmende Herausforderungen für Bildungsinstitutionen auf der Tertiär-Stufe (1) durch einen zunehmend kritischeren Blick auf den (finanziellen) Nutzen von Hochschulabschlüssen, (2) durch die erforderlichen digitalen Repräsentanzen von Hochschulen (angefangen von social media-Kanälen bis hin zur Anbindung an Netzwerke zur Verarbeitung von Zahlungen in Kryptowährungen) und (3) durch die höhere Volatilität von Studierendenzahlen und damit verbundenen Einnahmen. - Trend im Hinblick auf Umwelt & Politik
Notwendige Investitionen in Infrastrukturen (u.a. für hybride Lehr-Lernformate) bei gleichzeitigem Druck auf die Budgets für öffentliche Bildungsinstitutionen.
Wichtige Technologien und Praktiken
Die Mitglieder des Experten-Panels haven wiederum eingeschätzt, welche Technologien / Praktiken die grössten Auswirkungen auf Lehren und Lernen im Tertiär-Sektor haben werden. Die sechs am höchsten gewichteten Themen sind die folgenden:
- KI (Künstliche Intelligenz) für Learning Analytics
- KI für Lehr-Lern-Applikationen
- Hybride Lernräume
- Hybride Lern-Lernarrangements und Online-Lehre zum Standard machen
- Microcredentials
- Kompetenzentwicklung für Online-Lehre und hybride Lernsettings
Ein Vergleich mit den Vorjahren zeigt, dass es viel Kontinuität bei den fokussierten Themen gibt. Die Unterschiede sind eher bei spezifischen Vertiefungen zu diesen Themen auszumachen (Abbildung 1, oberer Teil):
Für die von den Experten am höchsten gewichteten Technologien bzw. Praktiken wurde wie in den Vorjahren jeweils ein Profil erstellt, wobei auch hier die in den Profilen berücksichtigten Aspekte sehr ähnlich geblieben sind (Abbildung 1, unterer Teil). Abbildung 2 (unten) zeigt einen Zusammenschnitt dieser Profile. Hier zeigt sich, dass die befragten Expert:innen die Akzeptanz für die Themen ‘KI für Learning Analytics’ und ‘KI für Lehr-Lern-Applikationen’ am geringsten einschätzen und das beste Kosten-Risiko-Nutzen-Verhältnis bei den Themen ‘Microcredentials’ sowie ‘Kompetenzentwicklung für Online-Lehre und hybride Lernsettings’ sehen.
KI für Learning Analytics
Im Zuge der durch die COVID-Pandemie forcierten Digitalisierung stehen den Hochschulen mehr digitale Daten zur Verfügung, die potenziell für systematische Auswertungen genutzt werden könnten. Potenziell aus zwei Gründen: zum einen sind auch an Hochschulen Datensilos und Barrieren zwischen Fakultäten, Instituten und Funktionseinheiten verbreitet; zum anderen sind nach wie vor Herausforderungen im Hinblick auf ethische Fragestellung sowie Aspekte der Datensicherheit und des Datenschutzes zu lösen.
Einsatzbereiche für KI-unterstützte Learning Analyics sind weiterhin die Identifikation von ‘students at risk’, Empfehlungssysteme für zusätzliche Angebote wie etwa Coaching und Mentoring und auch die Analyse von Anliegen, die Studierende in digitalen Medien artikulieren.
KI für Lernapplikationen
KI findet zunehmend auch den Weg in spezifische Lehr-Lern-Applikationen. Beispiele hierfür sind u.a. automatisierte Feedbacks zu Texten, die von Studierenden erstellt werden (virtual writing assistants), oder auch Lernplattformen, die personalisierte Vorschläge für Lernpfade machen. KI stärkt zunehmend auch immersive Lehr-Lernapplikationen. Etwa indem VR-Simulationen durch den Einsatz von KI realistischer und interaktiver werden. Als Beispiel wird im Bericht das Angebot der Purdue Universität im Bereich der medizinischen Ausbildung angeführt.
Hybride Lernräume
Die Herausforderungen bei der Aufrüstung von Lernräumen für hybride Lehr-Lernarrangements sind nicht zu unterschätzen. Gute Tonqualität für alle Beteiligten und gute Sichtbarkeit von allen Studierenden (sowohl im physischen Kursraum als auch online zugeschaltet) sind anspruchsvoll in der Umsetzung. Hinzu kommt, dass auch die Beteiligten in der Lage sein müssen, diese Systeme und Ausstattungen wirksam im Sinne der Lehr-Lernziele einzusetzen. In diesem Zusammenhang wird auch die Arbeitsteilung zwischen Lehrpersonen einerseits und technischem (Unterstützungs-)Personal andererseits zum Thema.
Im Horizon Report angeführte Beispiel für Umsetzungen sind aufgerüstete Lehrräume (ALCOVE an der Indiana University) und Entwicklungsangebote bzw. Workshops für Lehrpersonen an der University of Hong Kong.
Hybride Lern-Lernarrangements und Online-Lehre zum Standard machen
Allein mit der Ausstattung von Lehrräumen und der Qualifizierung des Personals werden hybride (und damit flexible) Lern-Lernarrangements noch nicht zum Standard. Genau dies ist aber die Zielsetzung für einige Bildungsinstitutionen im Hochschulbereich. Ein wichtiger Treiber hierfür sind Bestrebungen, Hochschulbildung auch für Zielgruppen zugänglich zu machen, für ein traditionelles, nur auf Präsenzunterricht und Vollzeit-Studium ausgerichtetes Studienmodell nicht passend ist – aus welchen Gründen auch immer. Als Beispiele angeführt werden unter anderem das Central New Mexico Community College und das Studienprogramm CHARM-EU einer europäischen Hochschulallianz (Barcelona, Dublin, Utrecht, Montpellier, Budapest).
Microcredentials
Microcredentials, also Bestätigungen oder Zertifikate zu Bildungsaktivitäten bzw. Ausbildungen, die kleinteiliger sind als Berufsausbildungen oder Hochschulabschlüsse, sind schon seit vielen Jahren ein Thema und auch weithin etabliert. In den letzten Jahren haben Microcredentials zunehmend an Bedeutung gewonnen. Treiber hierfür sind zum mit eine (zumindest in den USA) zunehmende Skepsis gegenüber dem Nutzen und Wert von kostenintensiven Hochschulabschlüssen. Zum anderen aber auch die Einstellungspraxis und die Karrierepfade von grossen Unternehmen wie etwa Google, Apple oder Tesla, die einen Hochschulabschluss nicht mehr zur Voraussetzung für eine Bewerbung und Einstellung machen.
Hochschulen müssen diese veränderten Haltungen zu Studienabschlüssen zur Kenntnis nehmen, können aber auch darauf reagieren – insbesondere wenn sie in der Lage sind, (1) attraktive Bildungsangebote in Online- oder Hybrid-Modalitäten zu realisieren und (2) darauf ausgerichtete Partnerschaften mit Unternehmen und Organisationen zu etablieren. Ein interessantes Beispiel, das im Bericht angeführt wird, ist die State University of New York (SUNY), die inzwischen mehr als 400 Microcredentials in über 60 Disziplinen anbietet.
Kompetenzentwicklung für Online-Lehre und hybride Lernsettings
Waren die allermeisten Beteiligten zu Beginn der COVID-Lockdowns sehr nachsichtig gegenüber Unsicherheiten, Fehlern und Pannen bei der Umsetzung von Online-Lehre, so wird mittlerweile von den Lehrpersonen diesbezüglich mehr Professionalität erwartet. Die Qualifizierung von Lehrpersonen im Hinblick auf eine zielführende, wirksame und sichere Umsetzung von Online-Lehre und hybride Lernarrangements ist der Bereich, bei dem Hochschulen mit vergleichsweise wenig Kosten und Risiko besonders viel gewinnen können. Aber nicht nur die Erwartungen von Hochschulleitungen und Studierenden sind diesbezüglich ein wichtiger Treiber. Auch Qualitätsmanagement- und Akkreditierungssysteme berücksichtigen zunehmend die Umsetzung von und die Qualifizierung für Online Lehre und hybride Lernarrangements in ihrem Kriterienkatalog. Als Beispiel wird im Bericht das Qualitätssystem 21st Century Distance Education Guidelines des Council of Regional Accrediting Commissions (C-RAC) angeführt.
Zukunfstszenarien und länderspezifische Perspektiven
Wie schon in der letzten Ausgabe, so schliesst auch der Bericht 2022 mit Skizzen zu Zukunftsszenarien für die tertiäre Bildung und mit Kurzbeiträgen von Bildungsexperten aus verschiedenen Ländern.
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