Im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion um die “digitale Transformation” von Unternehmen und Organisationen ist immer wieder auch die Rede von der Notwendigkeit einer verändeten “Lernkultur”. Die Stichworte hierzu lauten beispielsweise “mehr Lernen am Arbeitsplatz” oder “mehr Selbstverantwortung für die Lernenden”.
Dabei ist “Lernkultur” – ebenso wie “Kultur” – ein schwierig zu fassendes Thema. Eine Dissertation zum Thema (Marz-Irngartinger 2010), die ich kürzlich angeschaut habe, verweist auf ca. 150 verschiedene Definitionen zu “Kultur” und dementsprechend auch viele verschiedene Verständnisse von Lernkultur. Eine sehr einfache und eingängige Konzeption von (Unternehmens-)Kultur hat Edgar H. Schein vor über dreissig Jahren vorgeschlagen. Er unterscheidet drei Ebenen von Kultur und dieser Ansatz lässt sich auch auf das Thema Lernkultur anwenden:
- Ebene 1: sichtbare Dinge
a) Artefakte,
(z.B. Lernräume, Lernmedien (Bücher, WBT, online Bibliotheken), oder Lernmaterialien wie Tafeln bzw. Whiteboards);
b) Verhaltensweisen,
(z.B. Instruktion durch eine Lehrperson oder Lernbegleitung durch einen Coach); - Ebene 2: Wertvorstellungen und Einstellungen
(z.B. hat “Geschäftliches” immer Vorrang oder dürfen sich Mitarbeitende zeitweise für Lernaktivitäten ausklinken? welchen Stellenwert hat das Lernen von bzw. mit Peers (WOL) im Vergleich zum Lernen von Lehrpersonen bzw. Fachexperten?) - Ebene 3: (unhinterfragte) Grundannahmen
(z.B. Mitarbeitende kann man mit dem Thema Lernen / Entwicklung (nicht) allein lassen; ältere Mitarbeitende lernen langsamer als jüngere Mitarbeitende).
Wir hatten ja zu Beginn dieses Jahres die ersten online-Standortbestimmungen zu verschiedenen Themen im betrieblichen Bildungsmanagement verfügbar gemacht (Link zur Info-Seite; Link zum Anmeldeformular). Mittlerweile haben 40 Institutionen / Unternehmen die Standortbestimmung zum Thema “Lernkultur” genutzt. Ich will daher mal einen Blick auf die bisherigen Ergebnisse werfen.
Wir operationalisieren mit dem von uns verwendeten Diagnoseinstrument “Lernkultur” über fünf Bereiche mit jeweils mehreren Unterbereichen (Hasanbegovic 2007; Fandel-Meyer 2010):
- Mitarbeitende befähigen
- Eigenverantwortliches Lernen fördern
- Erwartungen an eigenverantwortliches Lernen kommunizieren
- etc.
- Führungskräfte einbinden
- Lernförderliche Führungsarbeit praktizieren
- Als Unterstützer von Lernprozessen agieren
- etc.
- Lernen ermöglichen
- Anreize für das Lernen setzen
- Austausch von Wissen unterstützen
- etc.
- Lernen vielfältig gestalten
- Informelles Lernen ermöglichen und fördern
- Unterstützende Technologien einsetzen
- etc.
- Den Wert von Lernen aufzeigen
- Verschiedene Anspruchsgruppen einbinden
- Ergebnisse kommunizieren und Massnahmen ableiten
- etc.
Die Institutionen, die sich bisher an der Standortbestimmung beteiligt haben, kommen mehrheitlich aus der Schweiz, sind vor allem im Bereich “Dienstleistungen” zu verorten und beschäftigen mehrheitlich zwischen 250 und 1’000 Mitarbeitende.
Legende: 1 = wenig entwickelt; 5 = sehr gut entwickelt
Die bisherigen Ergebnisse zeigen keine dramatischen Unterschiede hinsichtlich des Entwicklungsstands bei den fünf oben skizzierten Feldern. Aber es gibt Unterschiede. Vergleichsweise gut entwickelt sind aus Sicht der Befragten der Bereich “Mitarbeitende befähigen”, gefolgt vom Bereich “Lernen vielfältig gestalten”. Etwas weniger gut entwickelt sind aus Sicht der Befragten die Bereiche “Führungskräfte einbinden” und “Den Wert von Lernen aufzeigen”.
Die systematische Diagnose einer Lernkultur macht gleichzeitig Ansatzpunkte für deren Weiterentwicklung sichtbar. Die grössere Herausforderung ist aus unserer Sicht allerdings das Ableiten von Massnahmen und deren Umsetzung. Insbesondere dann, wenn jenseits von Anpassungen im Bereich der Gestaltung von Lernumgebungen / Lernangeboten auch Veränderungen bei Strukturen, Prozesse und Werthaltungen erreicht werden sollen. Hierzu mehr in diesem Blogpost.
Natürlich gibt es auch andere Diagnoseinstrumente für Lenkultur – vgl. dazu beispielsweise die folgenden Links:
Aber längst nicht bei allen diesen Instrumenten ist die konzeptionelle / theoretische Grundlage klar dargestellt und längst nicht alle Instrumente sind validiert. Sehr bekannt ist übrigens der “Dimensions of Learning Organization Questionnaire (DLOQ) von Marsick / Watson, ursprünglich aus dem Jahr 1999. Theoretischer Bezugspunkt ist hier das Konzept der “lernenden Organisation”. Dieser Fragebogen kann über diesen Link ausgefüllt werden.
Den Fragen, wie (betriebliche) Lernkulturen diagnostiziert und wie diesbezüglich Veränderungsimpulse gesetzt werden können, gehen wir übrigens auch in unserem scil learning day “Lernkulturen analysieren und gestalten” am 28. Juni nach. Mehr dazu hier.
Referenzen:
Fandel-Meyer, T. (2010). Lernkulturanalyse und -veränderung. In Trendstudie 2010 – Herausforderungen für das Bildungsmanagement in Unternehmen (S. 80–86). St. Gallen: Swiss Centre for Innovations in Learning.
Hasanbegovic, J., Seufert, S., & Euler, D. (2007). Lernkultur als Ausgangspunkt für die Implementierung von Bildungsinnovationen. OrganisationsEntwicklung, 26(2), 22–30.
Martz-Irngartinger, Alexandra (2010): Lernkulturen verstehen – erfassen – vergleichen. Theoretische Entwicklung eines Konzepts zur Operationalisierung von Lernkultur und dessen praktische Umsetzung anhand der Gegenüberstellung studentischer Lernkulturen in Deutschland, Finnland und Rumänien. Dissertation. Ludwig-Maximilians-Universität München.
Schein, Edgar H. (2010): Organizational culture and leadership. 4th ed. Jossey-Bass. (Erste Auflage 1985)
jrobes says
Ein sehr interessantes Thema! Eine kurze Nachfrage: Du schreibst: “Wir operationalisieren mit dem von uns verwendeten Diagnoseinstrument „Lernkultur“ über fünf Bereiche mit jeweils mehreren Unterbereichen”.
Wenn ich mir nun die fünf Bereiche anschaue, dann wiederholt sich das “Problem” der Lernkultur fast auf jeder Ebene. Die Themen sind sehr deutungsoffen, bieten viel Spielraum für subjektive Auslegungen (vielleicht nicht in jedem Fall 150 Definitionen, aber sicher viele …), die Lücke zwischen Theorie und Praxis kann sehr groß sein, usw.
Selbst wenn ich “Kultur” letztendlich an das Vorhandensein von bestimmten Instrumenten, Methoden und Prozessen knüpfe, also versuche, etwas Empirie ins Geschehen zu bringen, können die Instrumente, Methoden und Prozesse so oder so gelebt werden.
Habt Ihr einen Weg aus diesem Dilemma gefunden? Oder denke ich zu kompliziert?
Christoph Meier says
Lieber Jochen
Um das Phänomen “Lernkultur” empirisch in den Griff zu bekommen, erfolgt immer ein Zuschnitt, bei dem bestimmte Aspekte in den Blick genommen und andere Aspekte zurückgestellt werden. Wir haben bei der Entwicklung des Instruments (zusammen mit den damaligen Projektpartnern) natürlich unsere Brille (Pädagogik, Didaktik, Bildungsmanagement) aufgehabt, vorangegangene Arbeiten (z.B. Friebe) aufgenommen und Aspekte einer “lernenden Organisation”, wie sie etwa im Instrument von Marsick / Watson im Vordergrund stehen, bewusst nicht in den Mittelpunkt gestellt.
Die Operationalisierung der einzelnen Aspekte bzw. Konstrukte erfolgt über einzelne Frage-Items. Die einzelnen Items müssen – z.B. im Rahmen von Pre-Tests – auf ihre Validität und Trennschärfe geprüft werden. Insgesamt umfasst unser Instrument in der Langfassung ca. 50 Frage-Items. Die in diesem Beitrag behandelte Kurzfassung umfasst nur 13 Fragen und soll nur einer allerersten Orientierung im Themenfeld dienen.
Man kann natürlich noch feingliedriger operationalisieren und Fragebogeninstrumente mit hundert oder mehr Frage-Items entwickeln. Dann können die einzelnen Aspekte genauer in den Blick genommen werden, beispielsweise durch detailliertere Fragen zur Umsetzung. Aber das geht dann auf Kosten der Akzeptanz des Instruments bei den Nutzern (es braucht mehr Zeit, um den Fragebogen auszufüllen).
Das Dilemma, das du ansprichst, ist aus meiner Sicht kaum auflösbar: entweder sehr umfangreiche Instrumente, die nur mit grossem Aufwand genutzt werden können, oder schlankere Instrumente, die einfacher zu nutzen sind. Grundlage für eine Entscheidung ist die verfolgte Zielsetzung (z.B. Forschungsarbeit, die bestimmte Phänomene genauer verstehen / bestimmen will vs. “ausreichend gute” Standortbestimmungen, die als Ausgangspunkt für Management-Aufgaben dienen).
— Nachtrag–
Vielleicht hatte ich deine Frage nicht richtig verstanden: Man kann natürlich auch in Richtung qualitativer Verfahren denken, also Fallstudien zur Ausgestaltung / Veränderung von Lernkultur durchführen. Dabei kann man Aspekte der konkreten Umsetzung / des “Lebens” von Kultur genauer in den Blick nehmen. Allerdings um den Preis, dass die Vergleichbarkeit in der Breite schwieriger wird…
Herzlichen Gruss, Christoph