15 Jahre lang hat das New Media Consortium jährlich einen Report zu aktuellen Entwicklungen im Bereich von Lehr-Lern-Technologien publiziert. In 2019 hat EDUCAUSE das Projekt übernommen. Anfang März ist mit dem Horizon Report 2020 der erste unter der Leitung von EDUCAUSE erstellte Bericht erschienen – mit Anpassungen in der Methodik, der Struktur und der Inhalte.
Eine der auffälligsten Anpassungen ist der Verzicht auf die bisherigen Prognosen (“time to implementation”). Hier hat man eingesehen, dass diese nicht mit ausreichender Genauigkeit und damit nicht wirklich sinnvoll möglich sind. Der Bericht 2020 gliedert sich in die Abschnitte “Trends”, “Emerging Technologies & Practices”, “Scenarios” und “Implications”.
Rahmenbedingungen und Trends
Die 54 Mitglieder des Experten-Panels wurden gefragt, welche übergreifenden Trends in ihren Augen die künftige Entwicklung von Lehren und Lernen beeinflussen werden. Genannt wurden unter anderem die folgenden:
- soziale Trends
zunehmende Herausforderungen durch Unsicherheiten und Ängste unter Studierenden, durch Migration und demografische Verschiebungen (insbesondere ältere Studierende) sowie im Hinblick auf das Gewährleisten von Chancengleichheit; - technologische Trends
Künstliche Intelligenz, neue digitale Lernumgebungen, Analytics und Datenschutz / informationelle Selbstbestimmung; - ökonomische Trends
zunehmende Kosten für Bildung und Verschuldung von Studierenden; neue Kompetenzerfordernisse in einer veränderten Arbeitswelt; nachhaltiges Wirtschaften; - Trends im tertiären Bildungssektor
potenziell kleinere Studierenden-Jahrgänge mit hoher Diversität der Studierenden-Population; neue Wege zu Abschlüssen und Zertifikaten (u.a. online micro-degrees); zunehmende Verbreitung von online-Angeboten.
Emerging Technologies and Practices
Die Mitglieder des Experten-Panels wurden um eine Einschätzung gebeten, welche Technologien / Praktiken die grössten Auswirkungen auf Lehren und Lernen im Tertiär-Sektor haben werden. Für die Auswertung und das Ranking wurden folgende Aspekte berücksichtigt:
- Umfang der erforderlichen finanziellen Investitionen;
- Bereitschaft der Lehrpersonen, die Technologie zu nutzen;
- Risiko des Scheiterns;
- Positive Auswirkungen auf Lernerfolg;
- Nutzen im Hinblick auf Chancengleichheit.
Für die sechs am höchsten gewerteten Technologien / Praktiken haben die Autoren aus den Antworten jeweils ein Profil erstellt:
Im Folgenden meine Notizen zu den Aspekten, die mich besonders interessieren – auch vor dem Hintergrund unserer eigenen Weiterbildungsmodule zu diesen Themen…
Adaptive Lerntechnologien
“Adaptive Courseware” bzw. intelligente tutorielle Systeme sind im tertiären Bildungssektor in den USA schon seit fast 10 Jahren im Einsatz. Und die Lessons Learned sind vergleichbar mit früheren Technologie-Schüben in der Lehre:
technology alone does not produce improved learning outcomes. (…) After some of its initial pilots did not result in the hoped-for degree of student success, [Arizona State University] rethought its approach. ASU came up with what it calls the “adaptive-active approach,” in which adaptive technology is used in coordination with active learning. (…) it was the combination and integration of the technology and active learning engagements that produced the greatest gains in rates of student success.
Horizon Report 2020, S. 14
Intelligente tutorielle Systeme (ITS) sind dabei nicht nur für STEM- bzw. MINT-Fächer geeignet. Die befragten Experten führten gelungene Umsetzungen auch für andere Fächer und Disziplinen an: Volkswirtschaft, Psychologie, Geschichte und Philosophie ebenso wie in der Ausbildung von Lehrpersonen oder der Vermittlung von digitalen Grundkompetenzen.
Der Einsatz von ITS bietet darüber hinaus Möglichkeiten für eine Weiterentwicklung der Rolle der Lehrpersonen – weg von der Rolle als Inhalte-Vermittler und hin zu einer Rolle als Lernbegleiter und Lernberater.
Ein interessantes Fallbeispiel für den Einsatz von ITS ist die Arizona State University. Im Rahmen dieses Vortrags an der EDUCAUSE-ELI-Konferenz 2019 wird u.a. aufgezeigt, wie ASU den Einsatz von ITS gestaltet, wie sich die Prüfungsergebnisse der Studierenden verbessert haben und wie weit sie dort bei der Umsetzung des weltweit ersten Studiengangs sind, bei dem in allen Kursen mit einer adaptiven Lernumgebung gearbeitet wird.
KI-basierte Anwendungen für Hochschulen
Gegenwärtig stehen hier Informationsdienste für Studierende im Vordergrund. Hochschulen wie z.B. Northwestern University, die University of Oklahoma oder Griffith University in Australien haben Chatbots entwickelt, die die (angehenden) Studierenden zu jeder Tages- und Nachtzeit unterstützen – beim Kennenlernen der Hochschule, bei der Arbeit in der Lernplattform, bei der Suche nach Literatur oder bei Fragen zum Leben auf dem Campus. ((Im Horizon Report seltsamerweise nicht erwähnt werden die prämierten Entwicklungen rund um den Chatbot Ada des Bolton College.)) Andere Projekte zielen beispielsweise darauf ab, möglichst früh diejenigen Studierenden zu identifizieren und zu unterstützen, die ein höheres Risiko aufweisen, im Studium nicht erfolgreich zu sein. KI-Komponenten finden sich darüber hinaus in vielen Lösungen, die bereits im Einsatz sind, angefangen von Lösungen für das Erkennen von Plagiaten über adaptive Lernumgebungen bis hin zu Systemen, die automatisch Prüfungsfragen erzeugen. Die University of Oklahoma hat übrigens damit begonnen, eine Datenbank zu Projekten zum Einsatz von KI im tertiären Bildungssektor aufzubauen.
Learning Analytics mit Fokus auf Studierenden-Erfolg
Im Verlauf des letzten Jahrzehnts haben Hochschulen damit begonnen, Auswertungen zu Studienabbruch- und ~abschlussquoten mit detaillierteren Auswertungen zu Aktivitätsniveaus von Studierenden und Lernerfolgen (Learning Analytics) zu ergänzen. Auf der einen Seite werden Lösungen entwickelt, die Administratoren, Lehrpersonen und Studienberatungen in ihrer Arbeit mit Studierenden unterstützen. Beispiele sind Berkeley Online Advising (BOA) oder COMPASS (Comprehensive Analytics for Student Success, University of California, Irvine).
Auf der anderen Seite entstehen Lösungen, die Dashboards und Visualisierungen für Studierende bereitstellen, um sie bei der Gestaltung ihrer eigenen Lernstrategien und Lernaktivitäten zu unterstützen. Ein Beispiel hierfür ist Elements of Success an der University of Iowa. Eine empirische Studie zur Nutzung dieses Dashboards legen nahe, dass Studierende profitieren und bessere Noten erzielen, wenn sie regelmässig das Dashboard nutzen.
Gleichzeitig mit der Entwicklung solcher Lösungen stellen sich viele Fragen rund um die Themen Datensicherheit, Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung, die noch lange nicht abschliessend beantwortet sind.
Vom Lerndesign zum Learning Experience Design
Das Arbeitsfeld Instruktions- bzw. Lerndesign hat sich in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt, nicht zuletzt aufgrund von Einflüssen wie Design Thinking, User Experience Design oder agilen Entwicklungsmethoden. An der University of Waterloo (Centre for Extended Learning), beispielsweise, wurde ein Rahmenmodell für ein User Experience Design for Learning erarbeitet, das diese Entwicklungen aufgreift:
Through professional development, communities of practice, and new graduate programs, LDs are becoming experts in new areas. (…) As deeper connections are made between the learning design ecosystem and the overall student experience, LDs (…) will become even stronger agents of change in higher education, leading faculty and administrators closer to inclusive design and student-centered practices. (…) Learning design is (…) a dynamic field that has significant impact on learning and the holistic student experience, whether online or on campus.
Horizon Report 2020, S. 25
Open Educational Resources
(…) the primary drivers for increased adoption of OER are affordability, access, and digital equity. (…) OER may also provide faculty more agency in what learning materials to adopt and use.
Horizon Report 2020, S. 28
Despite the obvious advantages that OER provides, challenges remain. (…) nearly seventy-three percent of students and fifty-six percent of faculty have never heard of OER (…)
Knowing how to locate such resources also remains elusive. Multiple crawlers and consortia are emerging, but knowing where to find the best discipline-specific resources and how to employ them in a course can be daunting. (…) When resources do exist, faculty may need additional time to reuse, revise, remix, and/or redistribute those materials in a format that is consistent with their pedagogy.
XR-Technologien (AR, VR, MR, Haptic)
XR-Technologien werden an Hochschulen zunehmend eingesetzt. Der “Experience Catalogue” des Center for Teaching and Learning with Technology an der PennState University belegt dies eindrücklich mit der dort verfügbaren Sammlung in den Kategrien 360°Video und VR-Apps.
XR-Technologien biten vor allem dort einen Mehrwert, wo es darum geht, Lernen und Trainieren in einer sicheren Umgebung möglich zu machen – beispielsweise in der (zahn-)medizinischen Ausbildung oder in der Notfallmedizin. Hier können XR-Umgebungen bzw. Simulationen einen wichtigen Zwischenschritt bieten zwischen der Vermittlung von Wissen einerseits und der praktischen Arbeit mit echten PatientInnen andererseits. Darüber hinaus bieten XR-Technologien Möglichkeiten, Lernerfahrungen wie etwa Exkursionen auch für Studierende mit physischen Beeinträchtigungen zugänglich zu machen.
Je nach Einsatzszenario können auch trotz der noch hohen Investitionskosten für Hardware mit XR-Training deutliche Kosteneinsparungen realisiert werden – etwa wenn für die veterinärmedizinische Ausbildung weniger Pferde vorgehalten werden müssen, um Röntgenaufnahmen von Tieren zu üben.
Ergebnisse aus ersten Studien und Experimenten legen nahe, dass insbesondere die Kombination von XR-Lernumgebungen mit traditionellen Lernumgebungen zu guten Lernergebnissen führt. So verzichtet beispielsweise die tiermedizinische Ausbildung an der Case Western Reserve University doch nicht ganz auf die traditionelle Arbeit an Tierkadavern für das Training von Sezieren und Dissektionen – auch wenn dies aufgrund der verfügbaren Simulatoren möglich wäre. Den Ausbildern ist wichtig, dass die Studierenden an toten Körpern arbeiten, dass tote Körper entmystifiziert werden, dass die Studierenden anatomische Varianten direkt erleben und dass sie diese für Medinziner wichtige ‘rite de passage’ absolvieren.
Looking ahead, it is clear that equipment costs will decrease while XR capabilities increase. Combined with major advances in wireless and cellular network performance (…) it seems very likely that XR experiences will become more immersive and more powerful over time and that (…) it will be possible to deliver those experiences to both residential and remote learners.
Horizon Report 2020, S. 31
Zukunftsszenarien
Im Anschluss an die Diskussion der sechs am höchsten gewerteten Technologien / Praktiken entwickeln die Autoren vier Zukunfstszenarien für die tertiäre Bildung: Wachstum; Stagnation; Zusammenbruch und Transformation. Dieser werden jeweils auf einer Seite skizziert und sollen Entscheidungsträgern dabei unterstützen, sich auf unterschiedliche Entwicklungen einzustellen. Diese Szenarien wurden allerdings vor der Corona-Pandemie formuliert. Ich denke, für eine Beurteilung dieser Szenarien wir brauchen noch ein mehr Abstand zur aktuellen Sondersituation…
Brown, Malcolm et al. (2020): 2020 EDUCAUSE Horizon Report. Teaching and Learning Edition. EDUCAUSE.
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