Der Horizon Report 2021 liegt seit Mitte April vor – es ist die zweite Ausgabe des Horizon Reports unter dem Dach von EDUCAUSE. Im Mittelpunkt stehen die folgenden Technologien und Praktiken: Künstliche Intelligenz (KI), Blended & Hybride Kursformate, Learning Analytics, Microcredentials, Open Educational Resources (OER) und Qualitätsentwicklung beim Online-Lernen.
Die Erhebungsmethodik (Delphi-Studie mit ca. 90 Experten aus Nordamerika, Europa, Asien, Australien und Afrika) und die Struktur des Berichts sind gleich geblieben wie beim Bericht 2020.
Rahmenbedingungen und Trends
Die übergreifenden Trends, die in den Augen der Experten die künftige Entwicklung von Lehren und Lernen auf der Tertiärstufe beeinflussen werden, überraschen nicht. Die folgenden Trends werden als besonders wichtig erachtet:
- Soziale Trends
Verbreitung von Telearbeit und Telelernen (COVID-Pandemie), Vertiefung der ‘digital divide’ (zwischen technisch gut ausgestatteten bzw. gut angebundenen Studierenden und Studierenden, bei denen dies nicht so ist), und Verschärfung von Herausforderungen bezüglich der psychischen Gesundheit von Studierenden (COVID-bedingte Einschränkungen). - Technologische Trends
Verbreitete Umsetzung von hybriden (bzw. blended) Kursformaten, zunehmende Nutzung von Technologien zur Unterstützung von Lehren und Lernen und Faculty Development über Online-Formate. - Ökonomische Trends
Rückgang der für tertiäre Bildung verfügbaren Budgets, Verschiebungen bei den in der Wirtschaft nachgefragten Kompetenzprofilen sowie ökonomische Unsicherheit. - Trend im Hinblick auf Umwelt & Ökologie
Fortschreitender Klimawandel, reduziertes Pendleraufkommen (COVID) und zunehmende Aufmerksamkeit für nachhaltige Entwicklung.
Wichtige Technologien und Praktiken
Die Mitglieder des Experten-Panels wurden wiederum um eine Einschätzung gebeten, welche Technologien / Praktiken die grössten Auswirkungen auf Lehren und Lernen im Tertiär-Sektor haben werden. Für die Auswertung und das Ranking wurden folgende Aspekte berücksichtigt:
- Umfang der erforderlichen finanziellen Investitionen;
- Offenheit von Lehrpersonen und Studierenden dafür;
- Nutzen im Hinblick auf Chancengleichheit;
- Risiko des Scheiterns;
- Positive Auswirkungen auf Lernerfolg;
- Bedeutung im Hinblick auf die Zeit / die Anforderungen nach der COVID-Pandemie.
Bei den von den Experten als besonders wichtig herausgestellten Technologien und Praktiken zeigen sich die Auswirkungen der COVID-Pandemie ebenfalls deutlich:
- Künstliche Intelligenz (wie 2021)
- Learning Analytics (wie 2020)
- Blended & hybride Kursformate (neu in 2021)
- Open Educational Resources (wie 2020)
- Microcredentialing (neu in 2021)
- Qualitätsentwicklung in der Online-Lehre (neu in 2021)
Für diese von den Experten am höchsten gewichteten Technologien bzw. Praktiken wurde wie im Vorjahr jeweils ein Profil erstellt. Diese Profile werden allerdings nicht weiter kommentiert und auch nicht mit den Vorjahresprofilen verglichen.
Einsatz von KI an Hochschulen
Während zu diesem Thema im letztjährigen Bericht Service-Bots zur Unterstützung von Studierenden im Vordergrund standen, werden im diesjährigen Bericht die folgenden Aspekte behandelt:
- Einsatz von (Chat-)Bots zur Unterstützung von Lehr-Lernprozessen
Beispielsweise im Bereich des Sprachlernens, indem immersive Umgebungen ermöglicht werden, in denen Studierende mit Chatbots in Interaktion treten können; ein Beispiel ist das Projekt “Language Chatism” an der University of British Columbia; sowie von administrativen Prozessen ; - Einsatz von KI zur Unterstützung von Learning Analytics
so setzt beispielsweise das neuseeländische Mind Lab auf KI um die emotionale Färbung von Social Media-Beiträgen von Studierenden über ihr Studium automatisch zu analysieren (sentiment analysis); - Überprüfung und Anpassung von Curricula im Hinblick auf KI und die Erfordernisse einer “Generation KI”
so wird beispielsweise im Rahmen des multinationalen Förderprojekts FLoRA daran gearbeitet, Studierenden auf der Grundlage von Datenanalysen und KI eine individualisierte Unterstützung beim selbstregulierten Lernen zu ermöglichen;
und am Center for Research and Interdisciplinarity in Paris wird im Rahmen des Projekts WeLearn an einem Broswer-Plugin gearbeitet, das es erlaubt, Lernressourcen automatisch zu indexieren und gespeicherte Ressourcen auf einer Konzept-Landkarte zu verorten:
Der Einsatz von KI im Kontext von Hochschulen wird aber auch kontrovers diskutiert. Das zeigt sich insbesondere im Hinblick auf Verfahren zum Sicherstellen der Regelkonformität von Prüfungsleistungen (‘proctoring’ und ‘plagiarism identification’). Auf der einen Seite finden sich Webservices, die für US$ 10 / Monat KI-unterstützte Paraphrasierungswerkzeuge anbieten, mit denen automatisierte Plagiats-Kontrollen ausgehebelt werden können. Es braucht also Verfahren, um akademische Integrität sicher zu stellen. Auf der anderen Seite finden sich Hochschulen, die biometrische Daten von Studierenden sammeln und auswerten (ohne die Studierenden dazu zu informieren), um auf diese Weise die Integrität von Leistungen zu gewährleisten. Es scheint, so die Autoren des Horizon Reports, dass an manchen Stellen Feuer mit Feuer bekämpft wird.
Hybride Kursmodelle
Bei diesem Thema scheint mir eine begriffliche Unschärfe zu entstehen. “Blended” und “hybrid” werden teilweise synonym, teilweise unterschiedlich verwendet. Dieser Artikel zu “bichronous online learning” auf educause.edu versucht das begriffliche Durcheinander mit Abgrenzungen zu entwirren.
Viel gesprochen wird über sogenannte HyFlex-Modelle, bei denen Studierende die Möglichkeit haben, an hybriden Kursen entweder in Präsenz (auf dem Campus) oder Online (von zuhause aus) teilzunehmen. Weil die Leitung der Northwestern University in den USA davon überzeugt ist, dass hybride Unterrichtsmodelle auch nach dem Ende der Pandemie nachgefragt werden, wurden dort Millionen von Dollar investiert, um an die 200 Hörsäle für hybriden Unterricht aufzurüsten. Hybride Unterrichtsmodell erfordern aber nicht nur erhebliche Investitionen in Hörsaal-Infrastrukturen. Daneben braucht es auch Angebote zur Qualifizierung der Beteiligten. ‘Faculty Development’ ist schon lange etabliert. Neu dagegen sind Angebote im Bereich ‘Learner development’, mit denen Studierende für die neuen Lehr-Lernformate befähigt werden sollen. Ein Beispiel ist das Angebot LEVL UP (Learning and Engaging in Virtual Learning) an der University of Santa Clara in Kalifornien.
Learning Analytics
Mit der Digitalisierung wachsen die Mengen an Prozessdaten. Im Zuge verschiedenster Initiativen zur Unterstützung von Studierenden in ihrem Studienerfolg sammeln, verarbeiten und analysieren unterschiedlichste Stellen solche Prozessdaten (Zahlung von Semestergebühren, Zugriffe auf Lernplattformen und Lernressourcen, Ausleihen in der Bibliothek, mit Studierenden-ID dokumentierte Eintritte in Sportstätten, etc.). Den Autoren des Reports zufolge haben Hochschulen oft mehr Prozessdaten zur Verfügung als sie sinnvoll verarbeiten können.
Mit der Ausweitung der verfügbaren Daten und der Analytics-Inititiven nehmen vielerorts die Fragen und Bedenken zu: Wer hat Zugriff auf diese Daten? Wer nutzt diese Daten wofür? (Das gilt übrigens auch für Dozierende, die sich fragen, was mit den Daten passiert, die dokumentieren, ob sie die Feedbacks zu Ausarbeitungen Zeitplan-konform an Studierende gesendet haben oder nicht.) Sollen diese Daten und darauf basierende (vergleichende) Auswertungen – beispielsweise in Form von Studierenden-Dashboards – den Studierenden verfügbar gemacht werden, weil dies eine positive motivationale Wirkung entfalten kann?
Mit der Zunahme an verfügbaren Prozessdaten und den Möglichkeiten der Datenauswertung wächst an Hochschulen das Bedürfnis nach überlegten und zielführenden “Analytics Strategien” für die Hochschule einerseit sowie nach Handreichungen und Werkzeugkästen für Administratoren, Faculty und Studierende, damit diese die Möglichkeiten für Datenauswertungen sinnvoll nutzen können. Ein Beispiel für ein Dokument, in dem die Datenstrategie einer Hochschule ausformuliert wird, ist diese Präsentation der Stony Brook University. Und ein Beispiel für Ressourcen zur Umsetzung und Nutzung von Learning Analytics mit dem Ziel der Förderung von Chancengleichheit ist diese Sammlung der Initiative ‘every learner everywhere’ und Tyton Partners.
Microcredentialing (Kompetenznachweise)
Microcredentials verifizieren, validieren und bestätigen spezifische Fähigkeiten und Kompetenzen und sie unterscheiden sich von etablierten Studienabschlüssen dadurch, dass sie stärker fokussiert sind und in kürzerer Zeit erreicht werden können. Ein aktueller Report der Non-profit-Organisation Credential Engine von Februar 2021 listet allein für die USA knapp eine Million verschiedener Kompetenznachweise von Hochschulen, MOOC-Anbietern, Nicht-akademischen Institutionen (z.B. Berufsvereinigungen) und Sekundarschulen. Im Zuge der COVID-Pandemie haben sich die Ausgaben für Bildungsangebote, die solche Microcredentials anbieten, stark erhöht und die Autoren des Horizon Reports rechnen mit einer weiteren Verdoppelung in den nächsten drei bis fünf Jahren. Diese Entwicklungen fordern die tertiären Bildungsinstitutionen heraus:
An additional challenge for institutions of higher education is the increasing competition in the microcredentialing landscape from vendors and larger companies such as Google, which recently announced Career Certificates, focused on project management, data analysis, and UX design. (…) For many institutions, the growth of microcredentials will necessarily bring about a new architecture, infrastructure, and workflow for the development and implementation of programs and other forms of credentialing. The recent development of a Comprehensive Learner Record (CLR) specification by IMS Global (…) is one signal of the changes ahead. (…) With a stamp of approval from the American Association of Collegiate Registrars and Admission Officers, the CLR specification looks to become a mainstay in the higher education landscape (…) As higher education institutions (…) [respond] to workforce needs, it is clear that microcredentials have the potential to become a foundational element for future strategic planning [of educational activities].
Horizon Report 2021, S. 23
Open Educational Resources (OER)
Im Hinblick auf Open Educational Resources schwingt im diesjährigen Report – im Vergleich zum Vorjahr – Ernüchterung mit. Zwar hat es im Hinblick auf das Wissen um OER Fortschritte gegeben. Gleichzeitig stagniert die Akzeptanz bzw. Unterstützung bei den Lehrpersonen. Hier spielen vermutlich auch neue Vertriebsmodelle (Rabatte) der grossen Lehrbuchverlage eine wichtige Rolle.
Darüber hinaus halten die Autoren des Reports fest, dass es im Hinblick auf die Typen von offen verfügbaren Lernmaterialien Fortschritte gibt. OER gehen längst über Lehrbücher hinaus. Verfügbar sind mittlerweile auch virtuelle Umgebungen und Simulationen – beispielsweise im Bereich der Naturwissenschaftlichen und medizinischen Ausbildung (Biologie, Anatomie, etc.).
Qualität des Online Lernens
Dieser Abschnitt hat neu Eingang in den Horizon Report gefunden und ist Ausdruck der besonderen Situation aufgrund der COVID-Pandemie. Der Bericht verweist insbesondere auf besonders gelungene Portale und Ressourcensammlungen, die an verschiedensten Stellen aufgebaut wurden, um Lehrpersonen und Studierende bei der Umstellung auf Online-Lehre zu unterstützen. Daneben verweist der Bericht auf Initiativen an Hochschulen, die – ausgehend vom Operieren in einem Notfall-Modus – der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung wieder einen grösseren Stellenwert zumessen.
Zukunfstszenarien und länderspezifische Perspektiven
Wie schon in der letzten Ausgabe, so folgen auch im diesjährigen Bericht Skizzen zu Zukunftsszenarien für die tertiäre Bildung mit Blick 10 Jahre voraus (Wachstum, Stagnation, Zusammenbruch und Transformation) und fünf Kurzbeiträge von Bildungsexperten aus Australien, Südafrika, der Türkei und den USA. Diese zeigen Handlungserfordernisse auf, beispielsweise im Hinblick auf Flexibilität, Ungleichheit, neue Lernökosysteme und didaktische Modelle.
Sylvia Kaap-Fröhlich says
Danke Christoph für Deine Zusammen Fassung. Gibt es in der Schweiz schon Erfahrungen beim Microcredentialing z.B. zur Abrechnung in der beruflichen und oder hochschulischen Ausbildung?
Christoph Meier says
Liebe Sylvia, es gibt da aus meiner Sicht noch Unschärfen, was genau ein Microcredential ist und was nicht. Zählen beispielsweise die in der Schweiz (aber noch weniger in Deutschland) etablierten CAS-Abschlüsse dazu? Die SVEB-Abschlüsse? Ich denke, das wäre eine eigene Aufgabe, für die Schweiz eine Übersicht zu verfügbaren Microcredentials zu erstellen. Und auch im Hinblick auf die Anerkennung ist vieles noch unklar…