Aus der Verfügbarkeit von ChatGPT resultiert erneut ein starkes Veränderungsmoment für Bildungsorganisationen und Bildungsverantwortliche. Ein Orientierungsrahmen kann dabei helfen, die Herausforderungen anzugehen. Es braucht aber auch Freiräume für aktives Experimentieren.
Die aktuellen Entwicklungen im Bereich KI und der grossen Sprachmodelle bzw. Pre-Trained Transformer (ChatGPT etc.) sorgen in vielen Bildungsorganisationen für Aufregung:
“Artificial intelligence (AI) panic is spreading across the education sector.”
Mollick & Mollick (2023): Why all our classes suddenly became AI classes. HBSP-Education
Ähnlich wie zu Beginn der COVID-Pandemie vor drei Jahren ist wieder die Rede davon, dass sich “die Dinge” grundsätzlich ändern müssen – aktuell im Hinblick auf die Lern- und Prüfungskulturen. Die Fähigkeit von Bildungsorganisationen, Veränderungen in ihrer Umwelt zu verstehen und sich (schnell) anzupassen ist also unverändert wichtig.
Viele Bildungsorganisationen sind dabei, sich für die digitale Bildungswelt neu bzw. anders aufzustellen. Dabei hat sich der nachfolgend skizzierte Orientierungsrahmen als hilfreich erwiesen. Er beinhaltet drei zentrale Elemente und bettet diese in einen iterativen Prozess ein:
- Veränderungen beobachten
- Digitale Transformation verstehen
- Transformationsprozess gestalten
Veränderungen beobachten
Zunächst einmal ist für Bildungsorganisationen wichtig, die Veränderungen in Ihrer Umwelt kontinuierlich und systematisch zu beobachten. Dies gilt unabhängig davon, ob sie als interne Dienstleister agieren, als Institutionen des Bildungssystems verankert sind oder als Anbieter auf dem Markt auftreten.
- Wie verändert sich der Markt für Aus- & Weiterbildung?
- Wie verändern sich die Anforderungen und Erwartungen der Kund:innen? (Und wer sind diese überhaupt?)
- Wie verändern sich die nachgefragten bzw. die erforderlichen Kompetenzen und Skills?
- Welche Möglichkeiten im Hinblick auf neue / angepasste Formate der Kompetenzentwicklung gibt es?
Darüber hinaus sind auch die Veränderungen im Innenfeld zu beachten. Gesellschaftliche Veränderungen machen nicht an der Eingangspforte halt, sondern wirken auch intern. “New Work” ist hier ein wichtiges Stichwort unter anderen.
Digitale Transformation verstehen
Für die Arbeit im Veränderungsprozess ist es hilfreich, zwischen ‘Digitalisierung’ einerseits und ‘digitaler Transformation’ andererseits zu unterscheiden. Digitalisierung bezeichnet einen eher oberflächlichen Veränderungsprozess. Im Kontext von Bildungsorganisationen heisst das beispielsweise, dass digitale Medien eingeführt und eingesetzt werden, aber die bestehenden Lehr-Lernprozesse (z.B. “Unterrichten” oder “zugewiesene Lernmedien bearbeiten”) nicht grundlegend verändert werden. Mit der Veränderung von Leistungsprozessen (z.B. Teilnehmenden-Administration oder Umsetzung von Video-basierten Flipped-Classroom-Designs) greift die Veränderung schon tiefer. Digitale Transformation bezeichnet dann umfassende und koordinierte Veränderungen – im Hinblick auf die Interaktion mit Kund:innen, Leistungsprozesse, die Organisation, und das Geschäftsmodell (Grajek et al. 2020; Verhoef et al. 2021). Ein Beispiel für eine solche Transformation ist die Veränderung eines Anbieters von Präsenzkursen hin zu einem Betreiber einer branchenspezifischen Online-Plattform für Lernmedien und Online-Kurse, auf der auch Dritte gegen Gebühr ihre Angebote und Leistungen anbieten können.
Veränderungsprozess gestalten
Das Antreiben und Gestalten eines solchen Veränderungs- bzw. Transformationsprozesses ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Es braucht Veränderungen bei grundlegenden Perspektiven ebenso wie in der Organisationsgestaltung. Es braucht eine Vision und Ziele, einen Weg zu den Zielen (Strategie), Anpassungen beim Organisationsdesign und schliesslich auch Unterstützung bei der Umsetzung im Arbeitsalltag (Neumann / Kreiner 2021).
Iterationen im Veränderungsprozess
Im Prozess der Veränderung zeigt sich immer wieder, dass das bisherige Verständnis von Digitalisierung und digitaler Transformation unvollständig war und sich weiter vertieft hat. Das wird auch weiterhin so sein, weil mit dem Fortschreiten der technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen immer wieder neue Facetten der digitalen Transformation in den Blick kommen werden. Aus diesem sich nach und nach vertiefenden Verständnis ergeben sich dann unter Umständen veränderte Ziele, veränderte Strategien oder neue Gestaltungsideen für den übergreifenden Veränderungsprozess.
Freiräume für aktives Experimentieren und kontinuierliches Lernen
Bildungsorganisationen und Bildungsverantwortliche vertiefen also ihr Verständnis von Digitalisierung und digitaler Transformation im Verlauf des Veränderungs- und Transformationsprozesses. Damit liegt es nahe, diesen Prozess auch als aktives Experimentieren und kontinuierliches Lernen zu verstehen. Was dann wiederum dafür spricht, Freiräume für diese Experimentier- und Lernprozesse zu schaffen. Beispielsweise, indem für einen ausgewählten Produkt- oder Organisationsbereich die Rahmenbedingungen (Vorgaben, Regeln, etc.) gelockert und das Feld für das Experimentieren und Erproben von transformativen Veränderungen geöffnet wird. Dies ermöglicht eine steile Lernkurve – natürlich mit den unvermeidbaren Misserfolgen. Die daraus resultierenden Lernerfahrungen können dann aber zu geeigneter Zeit wieder in die anderen Produkt- oder Organisationsbereiche zurückgeführt werden.
Aus der Verfügbarkeit von ChatGPT resultiert aktuell ein starkes Irritations- und Veränderungsmoment für Bildungsorganisationen und Bildungsverantwortliche. Deshalb:
The best path forward is experimentation. Some experiments will work; others won’t. It’s also important to remember that while the sudden advent of generative AI may be disruptive to educators, it is even more disruptive to the futures of the students we teach. We need to give them the skills to thrive in a world transformed by AI.
Mollick & Mollick (2023): Why all our classes suddenly became AI classes. HBSP-Education
Verweise
- Grajek, S., & Brooks, D. C. (2020, August 10). A grand strategy for grand challenges: A new approach through digital transformation. EDUCAUSEreview.
- Mollick, E., & Mollick, L. (2023, March 9). Why All Our Classes Suddenly Became AI Classes: Strategies for Teaching and Learning in a ChatGPT World. Harvard Business Publishing – Education.
- Neumann, R., & Kreiner, B. (2021). Routenplanung und Streckenführung der digitalen Kompetenzentwicklung und was ein Change Management dabei leisten kann. In P. Ramin (Ed.), Handbuch Digitale Kompetenzentwicklung: Wie sich Unternehmen auf die digitale Zukunft vorbereiten (pp. 519–542). München: Hanser.
- Verhoef, P. C., Broekhuizen, T., Bart, Y., Bhattacharya, A., Qi Dong, J., Fabian, N., & Haenlein, M. (2021). Digital transformation: A multidisciplinary reflection and research agenda. Journal of Business Research, 122, 889–901.
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