Hinter dem Begriff “selbstreguliertes Lernen” verbirgt sich mehr als wir üblicherweise im Blick haben. Wenn Studierende oder Beschäftigte Themen und Inhalte selbst erarbeiten sollen, dann müssen sie auch auf entsprechende Kompetenzen und Ressourcen zurückgreifen können. Dieser Beitrag liefert Beispiele und ein Rahmenmodell.
Samuel Suresh ist Student und vielleicht ein Influencer. Ob und wie er für seine Posts und Videos vergütet wird, kann ich nicht sagen. Über Instagram, Facebook und Youtube teilt er seit 2019 Videos, in denen er – im Kontext seines Studiums – über die Nutzung seines iPad und verschiedener Apps berichtet (z.B. Notability, Goodnotes oder Notion). In einigen seiner Videos reflektiert er auch seine Lernerfahrungen an Schule und Hochschule und seine Lernstrategien.
In einem ersten Video, auf das ich aufmerksam gemacht worden bin, stehen vor allem Grundhaltungen bzw. grundlegende Herangehensweisen im Vordergrund: für Prüfungen büffeln (Wissen memorieren) versus eigene Fragen an den Gegenstand stellen und dem eigenen Erkenntnisinteresse folgen. Für Suresh ist dies der zentrale Unterschied zwischen Lernen an einer Schule und Studieren an einer Hochschule:
In einem nächsten Video vom Februar 2020 geht es vor allem um Lernstrategien: neue Themen über Leitfragen strukturieren und erarbeiten; neue Themen über Taxonomien strukturieren und erarbeiten; das Erstellen von angereicherten Visualisierungen als Wissensstrukturen.
In einem dritten Video (Januar 2021) berichtet Samuel Suresh von seinen Erfahrungen im Zusammenhang mit einem neuen Studienprogramm (‘business & law studies’). Er musste feststellen, dass seine im Kontext ‘science’ bzw. ‘medical science’ entwickelten Lern- und Notizstrategien sowie auch die eingesetzten Notizwerkzeuge nicht mehr passend waren:
Bildquelle: Samuel Suresh, Zusammenstellung scil
Suresh beeendet dieses Video mit dem folgenden Appell:
i know that so many of us think that we want some hack (…) some recipe that we can apply to whatever we’re studying – but i think we can do better than that; we have so many tools at our disposal, applications, technology productivity tools, the internet – to the point where (…) we don’t need more tools we don’t need more hacks we don’t need another faster way to memorize information that we’re just going to regurgitate in an exam; what we need is something better, something that’s a reflection of the way that we think naturally but is also adaptable at the same time; we need a process – a process that teaches us to solve problems that we haven’t solved before; (…) if you’re a student and you hate this process of you know studying – maybe try something different (…) try and find a process that suits you as an individual and you never know – you might end up enjoying it.
Samuel Suresh, automatisch aus YouTube erzeugtes Transkript, kleine Anpassungen
Weitere Videos von Samuel Suresh finden sich in seinem YouTube-Kanal.
Die Aspekte, zu denen Samuel Suresh hier aus der Perspektive eines ‘reflective practitioner’ (in diesem Fall eines reflektierten Studierenden) berichtet, lassen sich gut mit Konzepten aus der pädagogischen Psychologie und Didaktik verbinden. Beispielsweise mit Modellen zu (informellem) selbstreguliertem oder selbstgesteuertem Lernen von Zürcher (2007), Dilger / Sloane (2007), Metzger (2010) oder Zimmerman (Schunk / Usher 2013).
Das Modell von Zimmerman liefert einen aus meiner Sicht hilfreichen Rahmen. Zum einen stellt es drei Dimensionen von Selbsregulation bzw. selbstreguliertem Lernen deutlich heraus:
- Phasen: In welchen Schritten wird gesteuert?
- Gestaltungsaspekte: Was wird gesteuert?
- Entwicklungsstadien: Wie autonom sind Lernende unterwegs?
Zum anderen integriert dieses Modell zahlreiche Gestaltungsaspekte zu selbstreguliertem Lernen:
- Methodenauswahl (z.B. die Strukturierung der eigenen Lernaktivitäten anhand von Leitfragen bei Suresh);
- Zeitliche Organisation (z.B. Lernzeiten und Dauer von Lernphasen – da hätte ich mir bei Suresh noch mehr Informationen dazu gewünscht, wie viel Zeit er für das Erarbeiten seiner Wissensstrukturen aufwendet);
- Verhalten (z.B. Selbstbeobachtung und Selbststeuerung – hierzu streut Suresh immer wieder Hinweise ein);
- Physische Umgebung (z.B. das Herstellen einer geeigneten (störungsfreien) Lernumgebung oder das Zusammenstellen von Materialien);
- Soziale Umgebung (z.B. die eigene Lerngruppe, die Suresh in einem Video erwähnt, und von der er sich anscheinend abwendet, um seinen eigenen Weg zu verfolgen).
Und schliesslich berücksichtigt das Modell von Zimmerman auch wichtige personale Voraussetzungen für den Erfolg von selbstreguliertem Lernen, nämlich Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Werte, Ziele und Ergebniserwartungen.
Der Aspekt der Werkzeuge (Hard- und Software, z.B. die Verwendung eines Tablet-PC und bestimmter Apps), der in den Videos von Suresh eine grosse Rolle spielt, findet sich bei Zimmerman nicht explizit. Hier denke ich, könnte der Bezugsrahmen erweitert werden. Und eine Erweiterung ist aus meiner Sicht auch im Hinblick auf die Phasen angebracht. Konkrekt im Hinblick auf Aktivitäten, die man unter “Wissen aktiv erarbeiten” gruppieren kann und die im Modell der Lernstrategien von Metzger einen prominenten Platz einnehmen.
Die folgende Abbildung zeigt die Elemente des Orientierungsrahmens von Zimmerman mit Ergänzungen:
Eigene Darstellung nach Schunk / Usher (2013) und Metzger (201011)
Dieser Orientierungsrahmen macht deutlich, dass sich hinter dem Begriff “selbstreguliertes Lernen” oder “selbstgesteuertes Lernen” weitaus mehr verbirgt als wir vielleicht üblicherweise im Blick haben. Wenn die Erwartung formuliert wird, dass sich Studierende oder Beschäftigte Themen und Inhalte anhand von Texten, WBT oder den Materialien in einer LXP selbst erarbeiten, dann müssen wir auch im Blick behalten, welche Kompetenzen und Ressourcen dies erfordert. Und wir müssen darauf achten, ob sie tatsächlich in der Lage sind, selbstreguliert Inhalte in effektiver und effizienter Weise zu erarbeiten – und welche Unterstützung hier vielleicht erforderlich ist…
Auf den hier skizzierten Orientierungsrahmen beziehen wir uns übrigens auch in unserer neuen scil-Entwicklungspartnerschaft “Personalisierte Kompetenzentwicklung – zwischen Technologie-Unterstützung und Selbstregulation”. Dazu mehr in einem anderen Post.
Danke, Janet Lakatos, für das Finden und Teilen dieser Videos im Rahmen unseres Weiterbildungsmoduls “Workplace Learning”.
Dilger, Bernardette; Sloane, Peter F. E. (2007): Das Wesentliche bleibt für das Auge verborgen, oder? Möglichkeiten zur Beobachtung und Beschreibung selbst regulierten Lernens. In: bwp@ (Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online) (13).
Metzger, Christoph (2010): Lern- und Arbeitsstrategien. Ein Fachbuch für Studierende. WLI-Hochschule. 11., überarbeitete Auflage. Aarau: Sauerländer-Cornelsen.
Schunk, Dale H.; Usher, Ellen L. (2013): Barry J. Zimmerman’s theory of self-regulated learning. In: Anastasia Kitsantas, Barry J. Zimmerman, Dale H. Schunk, Héfer Bembenutty und Timothy J. Cleary (Hg.): Applications of self-regulated learning across diverse disciplines. A tribute to Barry J. Zimmerman. Charlotte, N.C: Information Age Pub, S. 1–28.
Zürcher, Reinhard (2007): Informelles Lernen und der Erwerb von Kompetenzen. Theoretische, didaktische und politische Aspekte. Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur. Wien (2 / 2007).
[…] Christoph Meier, scil/ Blog, 29. März 2021 […]