Die zweite Welle der Digitalisierung
Aktuell erleben wir eine «zweite Welle der Digitalisierung» (Wahlster): neben die bereits etablierten Technologien für maschinenlesbare Daten treten zunehmend Technologien, die Daten verstehen, veredeln und aktiv nutzen können. «Smart Machines» transportieren Güter und Fahrgäste, analysieren Verträge, unterstützen bei der Kundenberatung, unterstützen bei der Vermögensverwaltung, transkribieren Audio- und Videoaufzeichnungen, schreiben Börsen- und Sportberichte, helfen bei der Überwachung von Parkhäusern oder arbeiten Hand-in-Hand mit Menschen in der Produktion.
Wir können davon ausgehen, dass Smart Machines in zunehmendem Tempo verschiedenste repetitive und monothematische Aufgaben übernehmen und diese besser, schneller und kostengünstiger erledigen als Menschen. Dies befeuert nicht nur die Debatte um die Zukunft von Arbeit und Beschäftigung in modernen Wirtschaftsgesellschaften (beginnend mit Frey / Osborne 2013), sondern bringt auch neue Herausforderungen für die Personalentwicklung mit sich.
Don’t fear intelligent machines – work with them!

Schon Ende der 1990er Jahre war Garry Kasparov als amtierender Schachweltmeister mit der Situation konfrontiert, dass eine «intelligente» Maschine in seinem spezifischen Kompetenzfeld Überlegenheit bewies. Für Kasparov bedeutete dies einen Einschnitt in seine berufliche Entwicklung, wie er im Rahmen eines TED-Talks in 2017 ausführte.
In der Folge hat Kasparov die Entwicklung von «Advanced Chess» vorangetrieben. Bei dieser und ähnlichen Varianten (z.B. «Freestyle Chess») spielen Teams von Menschen und Computern (sogenannte Zentauren) gegeneinander. Im Rahmen eines Freestyle-Turniers in 2005 erlebte Kasparov eine Überraschung: nicht die vermeintlich stärksten Spieler mit den besten Rechnern gewannen das Turnier, sondern ein Team von Aussenseitern, die aber ihre drei einfachen Rechner sehr effektiv einzusetzen wussten. Kasparov zog daraus folgende Schlussfolgerung:
A weak human player plus a machine plus a better process is superior to a very powerful machine alone but more remarkably is superior to a strong human player plus machine and an inferior process.
Garry Kasparov, TED2017
Augmentation
In der Diskussion um den Einsatz von Smart Machines steht oft das Ersetzen von menschlichen Arbeitskräften im Vordergrund (Substitution). Zu wenig beachtet wird, dass
- in der Regel nur bestimmte Aufgaben auf Smart Machines verlagert werden und
- die von Kasparov angemahnte gute Zusammenarbeit von Menschen und Smart Machines (Augmentation) grosse Nutzenpotenziale bietet.
Beides liegt darin begründet, dass Menschen und Maschinen unterschiedliche Stärken haben:

Wichtige Diskussionsimpulse zu diesem Zusammenspiel kommen beispielsweise von Davenport / Kirby (2016) sowie Daugherty / Wilson (2018). So plädieren Davenport Kirby für einen Perspektivwechsel: weg von einem Verständnis von Arbeit als Nullsummenspiel (ENTWEDER durch Menschen ODER durch Maschine erledigt); hin zur Frage: was können Menschen und Smart Machines GEMEINSAM leisten? Diese “gemeinsame Mitte” ist auch im Fokus von Daugherty und Wilson, wenn sie die Bedeutung von wechselseitigem Ergänzen, Kooperieren, Verstärken und Trainieren herausstellen.
Augmentationsstrategien
Davenport und Kirby analysieren in ihrem Buch die Folgen des Eindringens von Smart Machines in die Arbeitsfelder von qualifizierten Wissensarbeitern. Und sie betonen die Bedeutung der Entwicklung neuer und erweiterter Kompetenzen für die Zusammenarbeit mit Smart Machines.
Für die betroffenen Wissensarbeiter sehen sie insbesondere fünf Strategien zur Weiterentwicklung:

Im Rahmen der Arbeit im scil Innovationskreis Augmentation hat sich u.a. gezeigt, dass diese Entwicklungsstrategien nicht nur für hoch qualifizierte Wissensarbeiter relevant sind, sondern auch für Agenten in einem Call Center oder angelernte Kräfte im Bereich der Post-Services. Und darüber hinaus sind diese Entwicklungsstrategien natürlich auch für Personalentwickler bzw. L&D-Experten selbst relevant. Auch in diesem Arbeitsfeld sind zunehmend Smart Machines verfügbar, die (Teil-)Aufgaben übernehmen können (vgl. dazu diesen Blogpost).
Von daher ist es wichtig, dass diese Entwicklungsstrategien
- für alle Betroffenen (Beschäftigte, Führungskräfte, Personalentwickler / Learning Professionals) verständlich gemacht werden können und
- zum Gegenstand von Entwicklungsgesprächen sowie längerfristigen Entwicklungsplanungen werden.
Die nachfolgende Abbildung, die im Rahmen des Innovationskreises erarbeitet wurde, hilft dies zu erreichen:

- Step in:
Smart Machines im eigenen Arbeitsfeld produktiv nutzen. Dazu gehört auch, die Grenzen (“Was kann die Maschine – noch – nicht?”) zu kennen sowie gegebenenfalls beim Verbessern (Trainieren) der Algorithmen zu unterstützen. Beispielsweise, indem Smart Machines bei Qualifizierungsprogrammen als Sparring-Partner und für schnelle, erste (automatisch erstellte) Feedbacks eingesetzt werden. - Step aside:
Aufgaben fokussieren, die über Informationsverarbeitung hinausgehen bzw. auf den Arbeitsergebnissen von Smart Machines aufbauen. Beispielsweise differenziertere Feedbacks in einem Qualifizierungsprozess sowie Beratung und Motivation zu weiteren Entwicklungsschritten. - Step up:
Aufgaben im Bereich der Evaluation und Steuerung übernehmen. Beispielsweise, welche Smart Machines für Trainingszwecke verfügbar sind, wo und wie diese eingesetzt werden sollen oder wie bezüglich deren Weiterentwicklung verfahren werden soll. - Step forward:
An der Weiterentwicklung von Smart Machines mitarbeiten. Hier braucht es nicht nur Software-Entwickler oder Spezialisten für KI. Darüber hinaus müssen auch Nutzer-Anforderungen erarbeitet und verdichtet, Projekte geleitet und Produkte bzw. Services vermarktet werden. - Step narrow:
Nischen suchen und durch Spezialisierung besetzen, in denen keine Smart Machines zum Einsatz kommen. Beispielsweise Qualifizierungsprogramme, bei denen keine KI-unterstützten Lernplattformen, Chatbots oder Simulationen verwendet werden.
Unterschiedliche Freiheitsgrade
Davenport und Kirby gehen – vielleicht etwas idealistisch – davon aus, dass die Betroffenen (die Beschäftigten) selbst entscheiden können (oder müssen), welche Augmentationsstrategie sie verfolgen. Und sie sehen die verschiedenen Entwicklungsstrategien als mehr oder weniger gleichwertige Optionen (mit Ausnahme von Step narrow). In der Unternehmenspraxis stellt sich dies häufig anders dar. So kann beispielsweise die Vertriebsleitung einer Bank vorgeben, welche digitalen, KI-basierten Assistenten von den Anlageberatern eingesetzt werden müssen. Für die Anlageberater bleibt dann nur die Option «Step in» oder aber der Wechsel auf eine andere Stelle – innerhalb oder ausserhalb der Bank. Das gleiche kann beispielsweise für Mitarbeitende im Call-Center gelten. Andere Unternehmen verfolgen diesbezüglich möglicherweise eine andere Personalpolitik und gewähren ihren Mitarbeitenden mehr Entscheidungsspielraum, um auch andere Entwicklungsstrategien in Betracht zu ziehen bzw. eine für sie selbst passende Augmentationsstrategie zu verfolgen.
Strategiespezifische Entwicklungserfordernisse und Entwicklungspfade
In welchen Bereiche Kompetenzen erweitert oder neu entwickelt werden müssen, ist abhängig vom Berufsfeld, den Aufgaben, der Gestaltung des Zusammenwirkens mit Smart Machines sowie der gewählten Augmentationsstrategie. Die Entwicklungsstrategie “Step forward” erfordert in der Regel mehr Kompetenzaufbau in Bereichen wie Informationstechnologie, künstliche Intelligenz oder User Experience Design. Die Entwicklungsstrategie “Step aside” erfordert häufig die Stärkung von Kompetenzen wie kreatives Problemlösen, Kommunikation, Coaching oder Beratung.
Beispiele für berufsfeldspezifische und strategiespezifische Entwicklungserfordernisse sowie auch für die Ausgestaltung bzw. Planung entsprechender Entwicklungsinitiativen finden sich im Arbeitsbericht zum scil Innovationskreis, der aktuell in Vorbereitung ist.
Gesprächsblockaden lösen
Die durch neue Technologien induzierten Veränderungen werden kurzfristig häufig überschätzt, langfristig häufig unterschätzt. Es zeigt sich, dass die Einführung von Smart Machines in verschiedene Arbeitsfelder nicht über Nacht erfolgt, sondern Schritt für Schritt. Gleichzeitig ist auch klar, dass umfangreiche Requalifizierungsprogramme viel Zeit erfordern (vgl. dazu diesen Bericht über die auf sieben Jahre angelegte unternehmensweite Re-Skilling-Initiative mit der der US-amerikanische Telekommunikationsdienstleister AT&T die digitale Transformation des Unternehmens unterstützt).
In vielen Unternehmen und Organisationen werden die Entwicklungen im Bereich Smart Machines und die Folgen für Kompetenzerfordernisse, Beschäftigung und Personalentwicklung nicht oder nur zögerlich thematisiert. Dahinter steht häufig die Befürchtung, dass eine Diskussion zu Verunsicherung führen könnte – insbesondere dann, wenn Leitungsebenen sich noch nicht in der Lage sehen, genauere Auskunft dazu zu geben, wer wann in welcher Weise betroffen sein wird.
Das Konzept der Augmentationsstrategien bietet nicht nur einen Orientierungsrahmen für die Personalentwicklung. Es bietet allgemein Orientierung für Betroffenen und Beteiligten. Es erleichtert, über Smart Machines und die Folgen für Beschäftigung und Kompetenzerfordernisse zu sprechen. Weil es aufzeigt, dass wir diesen Veränderungen nicht hilflos ausgeliefert sind. Vielmehr gibt es verschiedene, sich gegebenenfalls ergänzende Strategien für die Weiterentwicklung – auf der Ebene der einzelnen Mitarbeitenden ebenso wie auf der Ebene von ganzen Beschäftigtengruppen.
Verweise
Davenport, Thomas H.; Kirby, Julia (2016): Only humans need apply. Winners and losers in the age of smart machines. New York: Harper Business.
Daugherty, Paul R.; Wilson, H. James (2018): Human + machine. Reimagining work in the age of AI. Boston, MA: Harvard Business Review Press.
Frey, Carl Benedikt; Osborne, Michael (2013): The future of employment. Hg. v. Oxford Martin Programme on the Impacts of Future Technology. University of Oxford. Oxford, UK.
Kasparov, Garry (2017): Don’t fear intelligent machines. Work with them. TED 2017, April 2017.
Eine ausführlichere Herleitung und Darstellung von Augmentationsstrategien als Orientierungsrahmen für die Personalentwicklung findet sich in diesem Fachbeitrag:
Meier, Christoph; Seufert, Sabine; Guggemos, Josef (2019): Arbeitswelt 4.0 und Smart Machines. Augmentation als Herausforderung für die Personalentwicklung. In: Josephine Hofmann und Jochen Günther (Hg.): Arbeiten 4.0. HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik 56 (4). Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 823–839.
Das Sonderheft, in dem dieser Fachbeitrag erschienen ist, ist hier verfügbar: Arbeiten 4.0, HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik, Vol. 56 (4), 2019
Ein Abschlussbericht zum scil Innovationskreis “Augmentation und Personalentwicklung”, der einen Vorschlag für einen konkreten Umsetzungsprozess liefert, ist in Arbeit. Dieser wird in Kürze auf dieser Seite verfügbar sein.
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